140 Titel des Magazins Text: Olaf Gruschka / Foto: Olaf Gruschka Christen sind zunächst Hörende und auch Sehen- de. Sie sind Menschen, die aufmerksam wahrneh- men, die versuchen zu erfassen, was um sie herum vorgeht und nicht zuletzt das, was auch Gott von ihnen möchte, der ja in aller Regel nicht wie ein Deus ex machina wirkt, sondern durch die Zeichen der Zeiten. Deswegen tun wir gut daran, diese Zei- chen so aufmerksam in den Blick zu nehmen. Das II. Vatikanische Konzil hat gleich zu Beginn der Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes“ gesagt: „Es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen [den Herzen der Jünger Christi, den Herzen aller Christen] seinen Widerhall fände“. Lateinisch steht da: resonare; das heißt: widerhallen. Also: Nicht nur die Kirche will in die Welt hinein und erwartet von der Welt, dass sie ein Resonanzboden für die Botschaft des Glaubens ist, sondern zunächst geht es um die umgekehrte Richtung: Alle Christen und damit die ganze Kirche sind ein Resonanzboden für die Welt und alle Menschen. 2. Fragen Nach dem Zuhören geht Jesus einen Schritt weiter. Er stellt Fragen. Das ist nicht nur bei dem jungen Jesus im Tempel so, sondern das zieht sich sein ganzes Leben hindurch. Die Evangelien sind voller Fragen. Fragen, die Menschen an Jesus stellen, aber auch Fragen, die Jesus an Menschen stellt. Manchmal geben die Fragen einen viel stärkeren Aufschluss als die Antworten. Ich glaube, es gibt Menschen oder auch Zeiten, da fragen wir einfach zu wenig. Wir finden uns dann ab oder lassen uns abfinden mit dem, was man uns sagt. Aber das Le- ben und auch der Glaube sind nicht fertig, sondern fordern immer zum Vorletzten und erst recht zum Letzten Fragen heraus. Rainer Maria Rilke schrieb an einen jungen Dich- ter, dass er gerade die Fragen lieb haben solle: „For- schen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht le- ben können. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, ei- nes fernen Tages in die Antwort herein“. Der junge Jesus im Tempel fordert uns auf, immer wieder neu mit dem Fragen zu beginnen und es nie aufzugeben! 3. Einsicht Von Jesus heißt es, dass man sich über seine Ein- sicht, über seine Antworten wunderte. Von Salomo kennen wir das berühmte salomonische Urteil – also sowohl Salomo als auch Jesus sind zwei Men- schen, die hören und die fragen und die deswegen nicht nur einfach Wissen transportieren oder an- wenden, sondern die in eine Tiefe führen, die wir gerne mit Einsicht oder mit dem schönen Wort ‚Weisheit‘ bezeichnen. Weisheit leitet sich ja bekanntlich nicht von „wis- sen“ ab, sondern von „weisen“. Weisheit ist gerade- zu weisende Wahrheit. Vielleicht ist daher die Taube Zeichen des Geistes der Weisheit: die Taube, die im alttestamentlichen Buch Genesis nach der Sintflut einen kleinen Zweig bringt. Weisheit meint keine Lexika oder Bibliotheken,